BM-2011-2-Krawinkel

Pädiatrie und die Probleme ernährungsbedingter Mangelerscheinungen
Michael Krawinkel*

* Professor für Ernährung in Entwicklungsländern am Institut für Ernährungswissenschaft, Justus-Liebig-Universität, Gießen, Geschäftsführer der International Society of Tropical Paediatrics, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Welthungerhilfe, Deutschland

In Niedriglohnländern stellen Kleinkinder, Kinder und Jugendliche den Großteil der Bevölkerung. Dieser Unterschied zu westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern wird bei der Beschreibung „tropischer“ Krankheiten nur in den seltensten Fällen berücksichtigt. Tatsächlich ist zum Beispiel Malaria, oder auch die Bilharziose, hauptsächlich eine Krankheit, die Kinder betrifft. Aus diesem Grund muss die klinische Tropenmedizin ihren Schwerpunkt im Bereich Vorbeugung und Krankheitsmanagement auf Kinder legen.
Abgesehen von Tropenkrankheiten sind die häufigsten Beschwerden von Kindern, die in Armut leben, Infektionen des Atmungsapparates oder Dehydratation als Folge von Diarrhöe. Diese meist einfachen Beschwerden sind bei frühzeitiger Erkennung und Behandlung größtenteils verhinderbar und unter Kontrolle zu halten. Die Hauptursachen für die immer noch hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit liegen in mangelnder primärer und sekundärer Prävention, als auch im fehlenden Zugang zu qualitativer Gesundheitsversorgung.

Hier wird das Problem auch zu einer politischen Frage, da die finanziellen Zwänge von Regierungen in Niedriglohnländern auch zu mangelnder Unterstützung angemessener Gesundheitssysteme beitragen, wodurch die Säuglings- und Kindersterblichkeitsrate weiterhin hoch bleibt. Auch die Industrieländer, sowie die Weltbank und der IWF haben durch ihre Wirtschaftspolitik ihren Teil zu diesen hohen Sterblichkeitsraten in Niedriglohnländern beigetragen. Nun bleibt zu hoffen, dass die neuesten „poverty reduction strategies“ weniger schädliche Auswirkungen haben werden. Zumindest die „Millennium Development Goals“ der Vereinten Nationen konzentrieren sich auf die Verbesserung der Gesundheit von Kindern, denn sie haben sich folgende Ziele gesetzt:

·    Reduktion der Säuglingssterblichkeit

·    Reduktion der Müttersterblichkeit

·    Reduktion von Unterernährung sowie

·    Eindämmung der AIDS Epidemie

Trotzdem hat es in den letzten drei Jahrzehnten im Bereich Kindergesundheit auch große Fortschritte zu verzeichnen gegeben. So wurde von einem Team der IFPRI1 im Jahr 2000 die generelle Verminderung von Unterernährung bei Kindern analysiert, wobei festgestellt wurde, dass dieser Erfolg durch die Aufklärung von Müttern, die Verbesserung des Status der Frau, nationale Nahrungsmittelversorgung und einen gesunden Lebensstil mit Zugang zu medizinischer Versorgung erreicht werden konnte. Diese Studie zeigt uns, dass medizinische Versorgung immer mit der Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen von Menschen verbunden werden muss. Die Arbeiten über eine „child survival revolution“ – die in „The Lancet“ 20032 veröffentlicht wurden – erlauben tiefere Einblicke in die verschiedenen Aspekte dessen was Ärzte tun können, und wie sie mit nichtmedizinischen Helfern zusammenarbeiten können. Im Bereich der kurativen Kindergesundheitsversorgung hat die „Child Health and Development Group“ der WHO mit der Schaffung des „Integrated Management of Childhood Illness“ Programm3 (IMCI) die führende Rolle in der Entwicklung von Strategien zur Verbesserung der kurativen Betreuung übernommen. Kann eine Krankheit nicht verhindert werden, so soll für den Patienten zumindest die optimale Versorgung zur Verfügung gestellt werden. Während in der Vergangenheit Fortschritte in der medizinischen Versorgung durch Forschung erreicht wurden, liegt der Fortschritt hier in konzertiertem Handeln. Die Schaffung von Standards für die Säuglings- und Kinderversorgung bei ihrem ersten Kontakt mit dem Gesundheitssystem, sei es eine Erstversorgungseinheit oder eine Universitätsklinik, hat sich mittlerweile als erfolgreiche Strategie erwiesen, von der sowohl die Krankenversorgung in Industrieländern als auch jene in Niedriglohnländern oder Schwellenländern lernen können.

Ein Bereich, in dem der große Durchbruch bezüglich sekundärer Prävention von Krankheiten, die zur hohen Kindersterblichkeit in tropischen Ländern beitragen noch aussteht, ist die Malaria- und AIDS-Immunisierung. Jedoch mussten wir im Fall der Tuberkulose erfahren, dass die Erhältlichkeit einer Impfung das Wiederkehren der Tb-Epidemie in Verbindung mit Armut nicht verhindern konnte. Neben verbesserten Konzepten für Prävention und für die Versorgung kranker Kinder stellte auch die Einführung des „10 steps-concept in the management of severe malnutrition“ (10 Schritte zur Bekämpfung schwerer Unterernährung) der Abteilung für Ernährung der WHO einen großen Fortschritt dar. Die Sterblichkeitsrate von Kindern, die unter schwerer Unterernährung leiden, ist im gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts hoch geblieben. Nur eine mit Bedacht ausgearbeitete Strategie, die auf modernstem Wissen und dem Verstehen der Pathophysiologie der Krankheit basiert, kann die tödlichen Auswirkungen von Kwashiorkor vermindern.

Ernährungsbedingte Mangelerscheinungen beschränken sich nicht auf die sichtbaren Formen des Hungers. Der Mangel an Mikronutrienten, vor allem an Jod, Vitamin A und Eisen, verursacht eigene Gesundheitsprobleme. Während Jodmangel sich nicht auf die Dritte Welt beschränkt und für einen Großteil der Menschen erfolgreich durch Jod angereichertes Salz bekämpft werden kann, trifft man Vitamin-A-Mangel vor allem in Gebieten an, wo sich die Menschen eintönig ernähren, d. h. zu wenig Fleisch, tierische Nahrungsmittel, Palmöl und betakarotinhaltiges Gemüse aufgenommen werden. Da ein Vitamin-A-Mangel Erblindung (Xerophthalmie) hervorruft, ist die Zuführung dieses Vitamins absolut notwendig. Hier bestehen viele Möglichkeiten der Prävention, wie zum Beispiel Aufklärung über einen abwechslungsreichen Speiseplan, Anreicherung von Fetten und Ölen sowie Anbau von Vitamin-A-reichem Gemüse und Grundnahrungsmitteln. Die Verbindung zwischen Gesundheit, Ernährung und Landwirtschaft wird hier mehr als deutlich.

Die Folge von Eisenmangel wird oftmals unterschätzt: Er trägt grundlegend zur hohen Müttersterblichkeitsrate bei, da für eine anämische Mutter bereits geringe Blutverluste während der Geburt nicht verkraftbar sind. Die Bekämpfung von Eisenmangel ist sehr komplex, denn sie reicht von Entwurmung und Prävention von Hakenwurminfektionen bis hin zu einer Ernährung mit entsprechenden Nahrungsmitteln, die die enterale Aufnahme von Eisen erleichtern. Auch Eisenzusätze und Eisenanreicherung von Grundnahrungsmitteln sowie landwirtschaftlicher Anbau eisenhaltiger Produkte sind hier von größter Bedeutung.
Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass die Asiatische Entwicklungsbank

den Terminus „double burden of malnutrition“ geprägt hat. Dies bedeutet, dass Unterernährung und Mangelerscheinungen nicht die einzigen Gefahren für die Gesundheit von Menschen in Niedriglohnländern darstellen. Die Zahl an fettleibigen Kindern oder von Erwachsenen mit Diabetes mellitus II, Schlaganfällen oder Koronaropathien steigt in diesen Ländern rapider an, als in anderen Teilen der Welt. Die Prävention chronischer nicht übertragbarer Krankheiten ist ein äußerst wichtiger Aspekt der primären Prävention durch verbesserte Ernährung, denn die Behandlung von Diabetes mellitus, Arteriosklerose oder verschiedener Tumore ist in diesen Ländern weder für die Bevölkerung noch für die Regierungen leistbar.

Diese spärlichen Einblicke in die verschiedenen Aspekte der internationalen Kinder- und Ernährungsmedizin sollen unterstreichen, dass Medizin und Gesundheitsversorgung ohne regelmäßiges Umdenken nicht möglich sind. Sogar in Bereichen, wo wir überzeugt sind,  alles zu wissen, müssen wir für die optimale Versorgung unserer Patienten versuchen, über uns hinaus zu wachsen. Viele Beispiele jüngster Forschungsarbeit zeigen, dass immer neue Erkenntnisse über den genetischen, pathophysiologischen, psychologischen und sozialen Hintergrund von Gesundheit und Krankheit gewonnen werden.

Aus diesem Grund ist die im Kurskatalog „medicine & health“ gesammelte Information eine wertvolle Unterstützung für jeden, der im Bereich internationale Medizin arbeitet oder arbeiten will, und dafür geeignete Ausbildungen sucht. Ein Buch wie „medicine & health“ kann niemals Vollständigkeit erreichen, aber es enthält eine enorme Fülle an Information über die verschiedenen weltweiten Ausbildungsprogramme. Der Herausgeber hat keine Mühen gescheut, um das größtmögliche Maß an Vollständigkeit zu gewährleisten. Möge diese Publikation die weitläufige Verbreitung und Akzeptanz erhalten, die sie verdient. Öffentliche und private Institutionen im Bereich Entwicklungszusammenarbeit sind aufgerufen, dieses Kompendium zu fördern und finanzielle Mittel zur Weiterbildung und Qualifikation von Ärzten aus Niedriglohnländern zur Verfügung zu stellen.

Korrespondenzadresse:
Prof.Dr. Michael B. Krawinkel
Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität
Wilhelmstr. 20
D-35392 Gießen
michael.krawinkel(at)ernaehrung.uni-giessen.de

1 International Food Policy Research Institute, Washington, DC, USA; ein Institut der multinational agierenden öffentlichen Consultative Group of International Agricultural Research (CGIAR)
2   The Lancet (2003) Vol. 361, Nr. 9351, 9376, 9377,9378, 9379, 9380
3   Integrated Management of Childhood Illness (IMCI), WHO, Genf, 2000
4   Management of severe malnutrition, WHO, Genf, 1998