BM-2011-2-Wiget

Die Risikoeinschätzung in der Gebirgsrettungsmedizin
Urs Wiget

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Tatsache, dass ich voraussichtlich am XVI. Internationalen Reise- und Impfsymposium vor Euch stehen werde, hängt viel mehr vom Glück ab als von meinen Fähigkeiten, die Risiken in der Bergrettung richtig einzuschätzen: „Mehr Glück als Verstand“…

Es gibt Risiken für den Patienten und Risiken für die Bergretter, ob sie nun Profis oder Laien sind.

Die Risikoeinschätzung hängt von vielen Faktoren ab:

– Kenntnis der allgemeinen und lokalen Gefahren: Steinschlag, Lawinen, vereistes Gelände, Wettersituation
– Möglichst korrekte Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und derjenigen der Mitarbeiter im Gelände: Fitness, Trittsicherheit, psychisches Gleichgewicht, technisches Können, Kenntnis des vorhandenen Materials
– Kenntnis des Transportmöglichkeiten und deren Limiten: terrestrische Bergung, Flugrettung (vor allem in der Nacht)
– Der Zeitfaktor: in der Bergrettung haben wir häufig keine Zeit, eine eigentliche Risikoabschätzung vorzunehmen

In der professionellen Bergrettung ist meist der Helikopterpilot derjenige, der sich am meisten um die Risikoabschätzung bemüht. Er ist oft nicht direkt in das medizinische Geschehen eingebunden und kann die Situation besser aus einer gewissen Distanz beurteilen. Die eigene Erfahrung und diejenige des Teams spielt bei allen diesen Faktoren jedoch die entscheidende Rolle.

Das alles scheint recht klar und logisch, doch gibt es Situationen, in denen der menschliche psychologische Druck einfach alles über den Haufen wirft.

Eine junge Frau klettert mit ihrem Freund noch am späten Nachmittag im Winter in einem vereisten Wasserfall oberhalb der Langlaufloipe von Zinal. Es schneit leicht aus dem dichten Nebel heraus und es dämmert schon. Plötzlich wird das Paar von einer Lawine überrascht, die sich aus dem etwa tausend Meter hohen, breiten Trichter in die kleine Schlucht ergießt, in der der Wasserfall sich gebildet hat. Beide werden verschüttet, der Mann kann sich befreien, findet jedoch seine Freundin nicht und alarmiert die Bergrettung.

Mittlerweile ist es ganz Nacht geworden und die eindrückliche, gut eingespielte Maschinerie der Bergrettung organisiert sich: zwei Helikopter bringen, trotz Nacht und Nebel, Bergführer, Lawinenhunde und deren Führer sowie Beleuchtungsmaterial auf den Platz. Auf beiden Seiten der kleinen Schlucht werden Wachtposten hingestellt, die mittels eines starken Scheinwerfers und konzentriertem Hören eventuelle Nachlawinen melden sollen. Mehrere Bergführer, Lawinenhundeführer und ihre Hunde sowie ein Bergrettungsarzt beginnen, den relativ schmalen Lawinenkegel abzusuchen.

Plötzlich fällt der Generator, der den Strom für den Scheinwerfer spendet, aus und im gleichen Moment rauscht eine grosse Nachlawine in der Nacht über den Wasserfall und begräbt sämtliche Rettungsleute auf dem Lawinenkegel! Einige können sich selbst befreien, für zwei sehr erfahrene Bergführer – Rettungssanitäter kommt jedoch jede Hilfe zu spät. Schlussendlich sterben bei diesem Unfall die junge Kletterin und zwei sehr erfahrene Mitglieder unseres Teams.

Natürlich warf dieser Unfall grosse Wellen und es wurden überall Verantwortliche gesucht – sogenannte Risikospezialisten gaben rasch ihr Urteil aus ihrem warmen Büro heraus ab.

Für mich stellt sich hier eine ganz einfache Frage: Ich stehe 20 Meter vor einem relativ kleinen, sehr gut und eindeutig abgegrenzten Lawinenkegel in dem seit weniger als einer Stunde eine junge Frau verschüttet liegt. Die Chance, sie lebend zu finden, ist relativ groß. Ich kenne die Gegend sehr gut und weiß, dass oberhalb des Trichters ein mehr als tausend Meter hohes Einzugsgebiet besteht, das bei Nacht und Nebel absolut nicht beurteilbar ist.

Kann ich jetzt als Arzt und Mitmensch einfach am Rande des Lawinenkegels stehen bleiben, „weil es eben zu gefährlich ist“……?

Ein ähnliches Drama hat am 5. Januar 2010 dem Flugrettungsnotarzt Andreas Ammann der REGA zusammen mit 6 anderen Helfern durch eine Nachlawine das Leben gekostet.

Eine andere Art der Risikoabschätzung mag die folgende Geschichte erläutern – sie betrifft vor allem das Risiko des Patienten:

Wir sind zu dritt und stehen um morgens 10 Uhr 30 etwa 250 Meter unter dem Schneegipfel des 8035 Meter hohen Shisha Pangma in Tibet. Das Wetter ist gut und es windet ausnahmsweise nicht einmal – eine recht seltene, wunderbare Gelegenheit, um diesen Achttausender zu besteigen.

Während des langsamen Aufstiegs – wir sind ohne Flaschensauerstoff unterwegs – schauen wir alle paar Minuten zurück und hinunter auf unser Biwakzelt, das auf 7.500 Metern steht. Vor diesem Zelt liegt seit Stunden unser vierter Mann – ein sehr erfahrener, berühmter Bergführer, der schon 5 Achttausender bestiegen hat, im Schnee in der Sonne und bewegt sich nicht! In der Nacht zeigte er für mich klare Anzeichen eines Höhenhirnödems, obwohl er das kategorisch abstritt und auch behauptete, absolut kein Kopfweh zu haben. Er war jedoch extrem ungeschickt in seinen Bewegungen und schüttete, zum Beispiel, den ganzen Kochtopf mit heißem Wasser, das wir stundenlang vor Abmarsch im Zelt auf einem Gaskocher zubereiteten, aus – Schlafsäcke, Matten und etliches Gerät schwamm im Wasser und wir mussten ohne Getränk starten. Er wollte absolut mitkommen, sagte, er ruhe sich nur noch ein wenig aus, er würde dann uns ja so oder so einholen – was normalerweise bei diesem extrem trainierten Bergführer auch der Fall gewesen wäre. Er tolerierte keinen Widerspruch und wurde recht wütend, als wir von Abstieg und Höhenproblemen sprachen….

Schlussendlich halten wir es nicht mehr aus und meine beiden Freunde beschließen, mit mir auf den Gipfel zu verzichten, um mir zu helfen, den offensichtlich kranken Mann hinunter zu bringen…..es geht dann relativ gut, da dieser Extrembergsteiger trotz seiner Höhenkrankheit noch einigermaßen mit den Skis runterfahren kann….

Hier stellte sich für uns die Frage, ob wir es riskieren konnten, den Mann noch einige
Stunden so liegen zu lassen, um „rasch“ auf den Gipfel zu steigen.

Meine Erinnerung schwenkt mit Schaudern 25 Jahre zurück und zeigt mir eine andere Art der (unmöglichen…..) Risikoabwägung: nur ein unglaublich großes Glück hat verhindert, dass ich zusammen mit meinem Piloten und dem Flughelfer wegen eines toten Militärpferdes zu Tode gekommen bin!

Das Gönnersystem der REGA (Schweizerische Rettungsflugwacht) bietet nicht nur den Menschen einer Familie, sondern auch deren Haustieren Hilfe aus der Luft an…..bei diesen sogenannten „contadino – Einsätzen“ flog der Notarzt immer mit. Dies vor allem, weil ja in jedem Moment ein dringender Einsatz hereinkommen konnte und dazu auch aus reinem Interesse an der Arbeit mit den verletzten Tieren. So rückten wir auch aus, um ein verendetes Militärpferd neben einer kleinen Alphütte zu bergen. Der Flughelfer und ich hängten eine fünf Meter lange Kette am Zentralhaken des Helikopters ein und schlangen das andere Ende um den Hals des toten Pferdes. Der Pilot brachte die Maschine auf Touren, ich war schon eingestiegen, hatte mich jedoch noch nicht auf dem Sitz angeschnallt, der Flughelfer saß schon halb auf seinem Sitz und war gerade daran, die Türe des Helikopters zuzuschieben als der Heli plötzlich steil nach hinten und unmittelbar darauf um 180 Grad nach vorn kippte – der Flughelfer flog durch die Kabine, zuerst an die hintere Wand, dann wieder nach vorn über seinen Sitz, ich selber konnte mich noch krampfhaft am Sitz festhalten. Darauf brachte der Pilot die Maschine etwas hart auf den Boden…. Was war geschehen?

Beim vertikalen Anziehen der Last hatte sich der Kopf des toten Pferdes unter einem Drahtseil verfangen, das das Blechdach der kleinen Alphütte vom Boden weg abspannte…..

Wegen eines toten Pferdes sein Leben riskieren…..?

Es gibt Pläne zur Risikoabschätzung beim Großereignis oder dem Katastrophenfall und vor allem bei der Feuerwehr. Dort sind viele der Risiken evident (Feuer) und leiten die Helfenden zur Vorsicht an. In den Bergen ist das Risiko oft weniger eindeutig sichtbar. Dazu sind beim Großereignis immer eine größere Anzahl von Helfern vorhanden, die sich einem strikten Kommando unterstellen – das ist in der Bergrettung weit weniger klar. Dazu kommt, dass in der Bergrettung viele freiwillige Helfer mitmachen, die unbedingt helfen wollen, wenn sie schon mal drankommen….

Sicher kann man einen Teil der Risiken kalkulieren und damit umgehen, doch bleibt, von mir aus gesehen, der Anteil des reinen Glücks immer noch sehr hoch.

Fazit: ich kann nicht anders, als dem Schicksal dafür zu danken, dass ich jetzt an Eurem hochinteressanten Kongress teilnehmen kann…..

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