Interview mit Prof. Johannes Wohlrab

Hyaluronidase

Ein Portrait über Grundlagen und Potenziale eines Klassikers

Auflockerung des Bindegewebes, verbesserte Diffusion des Lokalanästhetikums und Linderung des intra- und postoperativen Schmerzempfindens – das sind Ergebnisse der in der Ophthalmologie bereits über Jahrzehnte etablierten Kombination des Enzyms Hyaluronidase (Hylase® „Dessau“) mit einem Lokalanästhetikum wie z.B. Lidocain. Welcher Wirkmechanismus dahinter steckt, welche neuen Indikationsgebiete sich fuür den Einsatz des Enzyms zur Unterstützung der Lokalanästhesie in der Dermatologie anbieten und wie es um das Sicherheitsprofil des Enzyms steht, weiß Prof. Dr. Johannes Wohlrab, leitender Oberarzt der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg.

Herr Professor Wohlrab, das Enzym Hyaluronidase wird bereits seit den 1960er Jahren in der Medizin eingesetzt. In welchen Indikationsbereichen findet das Enzym derzeit Anwendung?
Heute wird der Einsatz von Hyaluronidase im Rahmen chirurgischer Eingriffe bereits mannigfaltig praktiziert. Insbesondere in der Ophthalmologie und Dermatologie wird Hyaluronidase in Kombination mit verschiedenen Lokalanästhetika verwendet. In der dermatologischen Praxis kommt die Kombination aus Enzym und Lokalanästhetikum bereits bei der Entfernung von Lipomen, Atheromen, Warzen oder bei der Versorgung von Platz-, Riss- und Quetschwunden sowie bei einer Vielzahl weiterer therapeutischer wie auch diagnostischer Exzisionen zum Einsatz. Darüber hinaus wird die Ko-Applikation von Hyaluronidase für die Infiltrationsanästhesie auch in der Zahnheilkunde, plastischen Chirurgie, bei proktologischen Operationen und bei chronischen Schmerzsyndromen in Einzelfällen bzw. Fallserien beschrieben. Klinisch bedeutsam ist Hyaluronidase aber auch zur Korrektur von unerwünschten Ergebnissen, die nach der Gabe von Hyaluronsäurefillern entstanden sind.

Welche Eigenschaften des Enzyms machen sich Ophthalmologen und Dermatologen zunutze?
Hyaluronidase baut Hyaluronsäure ab und verändert damit die Gewebeeigenschaften. Dadurch wird die Diffusion von Substanzen im Gewebe erleichtert, was zu einem veränderten Verteilungsverhalten von Wirksubstanzen führt. Deshalb wird Hyaluronidase auch als „Diffusionspromotor“ bzw. „spreading factor“ bezeichnet. Dieses Prinzip ist der Wirkung tierischer Gifte entlehnt, in denen Hyaluronidase zur rascheren Bioverfügbarkeit und verbesserten Verteilung des eigentlichen Toxins beiträgt. Die Anwendung des Enzyms im medizinischen Bereich kann demnach sowohl zur Verbesserung der Bioverfügbarkeit von Wirkstoffen, als auch zur rascheren Elimination von Toxinen genutzt werden. Sie bezeichneten die Hyaluronidase als „Diffusionspromotor“.

Wie sieht der Wirkmechanismus des Enzyms im Detail aus?
Diffusion ist ein passiver Vorgang, der den Gesetzmäßigkeiten des Fickschen Diffusionsgesetzes folgt. Dadurch wird deutlich, dass die Gewebeeigenschaften, die den Diffusionskoeffizienten stark beeinflussen, wesentlich für den Substanzfluss durch das Gewebe sind. Um den genauen Wirkmechanismus von Hyaluronidase in diesem Zusammenhang zu verstehen, muss man zunächst wissen, dass die Hyaluronidasen entsprechend ihrer biochemischen Spaltungseigenschaften in Hyaluronatglucanohydrolasen, -1-3 Hyaluronatglucanohydrolasen und Hyaluronatlyasen unterteilt werden. So spalten die Hyaluronatglucanohydrolasen von Vertebraten (Säugern, Schlangen, Echsen) oder Invertebraten (Insekten, Spinnentiere, Skorpione) etwa Hyaluronsäure durch Hydrolyse als Endohydrolasen an der ?-1-4 glykosidischen Bindung zu gesättigten Oligosacchariden mit D- Glucuronsäure am nicht reduzierten und N-Acetyl-D-glucosamin am reduzierten Molekülende. Beim Menschen sind bisher funktionell drei Hyaluronidasen als besonders relevant erkannt. Darunter findet sich u.a. die therapeutisch bedeutsame Form der Sperma-Hyaluronidase (PH-20), der bei der Penetration und Befruchtung der Eizelle durch Samenzellen eine wichtige Rolle zukommt. Diese therapeutisch verwendete PH-20 spaltet als Hyaluronatglucanohydrolase Hyaluronsäure durch Hydrolyse und verringert damit sehr effektiv die Kettenlänge der Hyaluronsäure und damit ihre Funktionalität.

In Kombination mit welchen Lokalanästhetika wird Hylase® „Dessau“ in der Dermatologie eingesetzt?
Von den für die Infiltrationsanästhesie in Frage kommenden Lokalanästhetika liegen für Lidocain die besten Daten für den kombinierten Einsatz mit Hylase® „Dessau“ vor. Empfohlen wird eine Konzentration von 75 IU Hyaluronidase/ml Applikationslösung bei 0,5% Lidocaingehalt. In der Literatur finden sich aber auch andere Konzentrationsangaben und Mischungsverhältnisse. Dabei variieren die Empfehlungen, Hyaluronidase bis zu einer Konzentration von 375 IU/ml und Lidocain bis 2%-ig einzusetzen. Adaptationen des Mischungsverhältnisses werden insbesondere bei Operationen in speziellen anatomischen Regionen wie im HNO-Bereich bzw. retro- und peribulbären Gebiet praktiziert.

Gibt es aktuelle Studiendaten, die die Wirksamkeit von Hyaluronidase zur Unterstützung der Lokalanästhesie in der dermatologischen Praxis bestätigen?
Die klinische Relevanz des Nutzens der Ko-Applikation von Hyaluronidase bei der Infiltrationsanästhesie der Haut wurde für die Zunahme des maximal analgesierten Gewebevolumens bereits in früheren Studien nachgewiesen. Im Einklang mit den bisherigen Untersuchungen zeigen die kürzlich durch unsere Arbeitsgruppe vorgelegten Studienergebnisse, dass die enzymatische Auflockerung der extrazellulären Matrix insbesondere in den ersten Minuten nach Applikation der Hyaluronidase klinisch wirksam wird. Die Begrenzung des Effektes wird offensichtlich durch eine zunehmende Inaktivierung der Hyaluronidase bedingt, an der verschiedene Faktoren beteiligt sein können. Die Diffusion des Lokalanästhetikums kann somit insbesondere in den ersten Minuten post injectionem relevant verbessert werden und führt damit zu einer Vergrößerung des Verteilungsvolumens, also des analgesierten Gewebevolumens, welches sich am Hautorgan an einer vergrößerten analgesierten Hautfläche klinisch widerspiegelt.

Welche Vorteile ergeben sich durch den Zusatz von Hyaluronidase für den Operateur und für die Patienten?
Die Zugabe von Hyaluronidase verfolgt das Ziel, das maximal anästhesierte Gewebevolumen und die anästhesierte Fläche in der Frühphase nach Applikation zu vergrößern. Der Operateur spart also Zeit und gewinnt Sicherheit im operativen Management. Der Patient kann schmerzfrei und möglicherweise komplikationsärmer versorgt werden, ohne relevante Veränderung des Risikoprofils. Insgesamt kann also die Benefit-Risk-Ratio des Hyaluronidasezusatzes zur Infiltrationsanästhesie als positiv bewertet werden.

Wann ist der Einsatz von Hylase® „Dessau“ kontraindiziert?
Grundsätzlich gelten die Warnhinweise für die Anwendung des Präparates, die in der Fachinformation hinterlegt sind. Besonders sollte darauf geachtet werden, dass keine Überempfindlichkeit auf Rinderproteine bekannt bzw. aus anamnestischen Angaben der relevante Verdacht abzuleiten ist. Auch ist eine Anwendung in infiziertem Gewebe oder bei Tumorerkrankungen kontraindiziert. Darüber hinaus muss das schriftliche Einverständnis des Patienten nach Aufklärung der Besonderheiten des kombinierten Einsatzes bei der geplanten Infiltrationsanästhesie vorliegen.

Wie beurteilen Sie das Sicherheitsprofil von Hylase® „Dessau“?
Hinsichtlich der Sicherheit der Anwendung von Hylase® „Dessau“ ergeben sich aus meiner Sicht keine relevanten Bedenken. Berichte über Unverträglichkeitsreaktionen sind angesichts des häufigen Einsatzes, insbesondere in der Ophthalmologie, selten. Wird Hylase® „Dessau“ subkutan appliziert, kann keine Enzymaktivität im Plasma nachgewiesen werden. Der genaue Eliminationsprozess des Enzyms ist derzeit noch nicht vollständig geklärt. Es scheint jedoch so, dass Hylase® „Dessau“ im Blut sehr rasch abgebaut wird. Die von einigen Seiten geäußerten Bedenken mit Bezug auf eine mögliche Retardierung von Wundheilungs-prozessen nach operativen Eingriffen konnten in Studien zudem widerlegt werden.

Prof. Johannes WohlrabProf. Johannes Wohlrab

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Johannes Wohlrab, wir danken Ihnen für das Gespräch!